Jenseits der Gewohnheit. Mitgliedschaft, Macht und Wandel neu denken

86 7.3 Zielgruppen und Strukturen bisheriger Verbandsarbeit Die verwendeten Begriffe und die damit verbundenen Werte helfen Organisationen nicht nur dabei, sich intern zu orientieren, sondern beeinflussen auch stark, wie sie von außen wahrgenommen werden und wen sie ansprechen. Auf dieser Grundlage schauen wir nun genauer auf die tatsächlichen Zielgruppen der Verbände: Wer wird derzeit tatsächlich erreicht? Welche Barrieren bestehen – auch bedingt durch sprachliche und kulturelle Codes – und wie wirken sich diese auf die Zusammensetzung der Mitgliedschaft und das Engagementsprofil aus? 7.3.1 Empirische Befunde zur Mitgliederstruktur und Ansprache Viele traditionelle Mitgliedsverbände zeigen eine überalterte Mitgliederstruktur. Besonders Jüngere unter 40 Jahren sind deutlich unterrepräsentiert, während sie gleichzeitig zunehmend projektbezogene, digitale oder themenspezifische Engagementformen bevorzugen. Gründe hierfür sind unter anderem rigide Sitzungsformate, wenig flexible Einstiegsmöglichkeiten und formalisierte Entscheidungsprozesse, die nicht den Lebensrealitäten Jüngerer entsprechen (Böse/Pries 2017; Kausmann et al. 2018). Empirische Erhebungen wie der Deutsche Freiwilligensurvey zeigen, dass bürgerliche Milieus in der Mitgliedschaft stark dominieren, insbesondere in Bereichen wie Umwelt- oder Kulturverbänden. Menschen in prekären Lebenslagen oder mit niedriger formaler Bildung sind kaum vertreten, obwohl sie oftmals eine hohe informelle Hilfsbereitschaft aufweisen (Schührer, 2019; BMFSFJ 2022). Diese Gruppen erleben Engagementangebote häufig als ausschließend, etwa aufgrund von Sprache, Zugangshürden oder fehlender Anerkennung. Um sie besser zu erreichen, sind niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeiten, Anerkennungssysteme und lokal verankerte Ansprechformen erforderlich (siehe auch Ergebnisse des Vierten Engagementberichts der Bundesregierung, BMFSFJ 2025). Frauen sind in vielen Organisationen überdurchschnittlich engagiert, übernehmen aber seltener Führungs- oder Leitungsfunktionen – ein anhaltender Gender Gap in Verantwortungspositionen (Meise 2014). Gleichzeitig sind Menschen mit Migrationsgeschichte deutlich unterrepräsentiert, obwohl Studien belegen, dass ihre Engagementbereitschaft hoch ist. Der Zugang zu klassischen Engagementstrukturen wird jedoch häufig durch Rassismuserfahrungen, Sprachbarrieren oder fehlende Repräsentation erschwert (Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2012, BMFSFJ 2024). Der Bildungsgrad wiederum korreliert signifikant mit Engagement: Je höher die formale Bildung, desto wahrscheinlicher ist eine aktive Mitgliedschaft – allerdings weniger aus motivationalen Gründen als aufgrund besserer Kenntnis, Netzwerken und Selbstwirksamkeitserfahrungen (Kausmann et al. 2018, BMFSFJ 2024). Es lässt sich aber auch beobachten, dass Mitgliedsverbände zunehmend selbstkritisch ihre Zielgruppenstruktur reflektieren und aktiv Strategien zur Öffnung entwickeln. Über alle Verbändetypen hinweg wird versucht, jüngere Menschen, Personen mit Migrationsgeschichte sowie Menschen in sozioökonomisch benachteiligten Lagen gezielt anzusprechen. Dazu zählen insbesondere die Einführung niedrigschwelliger digitaler Angebote und personalisierter Ansprachen über Social Media.

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