60 6.3.1 Entwicklungen und Herausforderungen Historische Entwicklungen und aktuelle Trends Zivilgesellschaftliche Organisationen haben eine lange Tradition in Deutschland. Der Verein als klassische Form zivilgesellschaftlicher Organisation entwickelte sich bereits im 19. Jahrhundert und wurde damals vor allem als politische bürgerschaftliche Selbstorganisation von der Arbeiter- und der Frauenbewegung genutzt. Diese Tradition zivilgesellschaftlicher Organisationen wurde während des Nationalsozialismus unterbrochen, aber schnell nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 wieder ins Leben gerufen, um die politischen Interessen und Anliegen der Bevölkerung zu bündeln und auszudrücken. Ein weiterer Aufschwung zivilgesellschaftlicher Organisationen war in den 1960er- und 1970er- Jahren zu beobachten, als es zu einer Diversifizierung der Interessensbereiche kam: die organisierte Zivilgesellschaft konzentriert sich seitdem nicht mehr ausschließlich auf politische Themen, sondern bezieht jetzt auch den Bereich der Freizeit mit ein. In den letzten Jahren sind vor allem klimapolitische Themen in den Vordergrund gerückt (Deutscher Bundestag 2002; Schmidt 2021). Die organisierte Zivilgesellschaft entwickelt sich mit den Interessen und Herausforderungen der Zeit und kann somit als Spiegelbild der Gesellschaft gesehen werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind stark von Engagierten abhängig. So zeigen Daten aus dem Jahr 2022, dass etwa 70 Prozent aller zivilgesellschaftlichen Organisationen ausschließlich von Engagierten getragen wurden und selbst die Organisationen, die Hauptamtliche beschäftigen, in den meisten Fällen Hybridorganisationen sind, in denen sowohl Ehren- als auch Hauptamtliche tätig sind (Alscher et al. 2024; Schubert et al. 2023). Traditionell sind Mitgliedsorganisationen vor allem auf langjährige Bindungen und feste Strukturen ausgerichtet. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass diese Strukturen nicht mehr alle Engagierten gleichermaßen ansprechen. Für immer mehr Menschen gewinnen flexiblere, projektbezogene Engagementformen an Attraktivität. Dennoch engagieren sich immer noch über 80 Prozent der Engagierten über formelle Strukturen, wie Vereine und Verbände, kirchliche oder religiöse Vereinigungen, staatliche oder kommunale Einrichtungen oder andere formal organisierten Gruppen. Das informelle Engagement macht nach wie vor nur einen kleinen Teil der Engagementlandschaft aus, auch wenn es im Zeitvergleich stetig an Zuwachs gewinnt. Ein weiterer Trend zeigt sich darin, dass immer weniger Personen, die über eine Mitgliedsorganisation engagiert sind, auch Mitglied in dieser Organisation sind (Alscher et al. 2013; Karnick/ Simonson/ Hagen 2022; Schubert et al. 2023). Heute gibt es in Deutschland mehr als 600.000 eingetragene Vereine (Stand 2022). Die Zahl der Vereine steigt nach wie vor. Allerdings ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass der Zuwachs an Vereinen Jahr für Jahr kleiner wird. Das liegt daran, dass die Zahl der Vereinsschließungen recht konstant bleibt, während die Zahl der Vereinsgründungen immer weiter zurückgeht. Von einem sogenannten „Vereinssterben“ kann aktuell noch nicht gesprochen werden, allerdings führt der Trend dorthin. Hier ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Gründungsdynamiken je nach Region stark schwanken (Schubert et al. 2022).
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