Jenseits der Gewohnheit. Mitgliedschaft, Macht und Wandel neu denken

39 Lukes (1974/2005) spricht von einer „verdeckten“ Dimension der Macht, bei der politische Agenden hinter verschlossenen Türen festgelegt und bestimmte Themen systematisch aus dem politischen Prozess herausgehalten werden. Es geht also nicht nur darum, was entschieden wird, sondern auch darum, was überhaupt zur Entscheidung steht. Die vierte und umfassendste Dimension ist die strukturelle Macht. Sie prägt das soziale Feld von Grund auf und bestimmt, welches Verhalten möglich oder unmöglich wird. Wolf (1989) formuliert, dass strukturelle Macht bestimmte Handlungsoptionen begünstigt, während andere erschwert oder ausgeschlossen werden. Zentrale Begriffe sind hier: Hegemonie (nach Gramsci): Die herrschende Klasse formt die Kultur einer Gesellschaft – also Überzeugungen, Erklärungen, Werte, Wahrnehmungen und Bräuche – so, dass ihre Weltsicht als selbstverständlich und allgemeingültig erscheint. Die dominante Ideologie rechtfertigt so den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Status quo als unvermeidbar und vorteilhaft für alle, obwohl er in Wahrheit vor allem den Herrschenden dient. Doxa (nach Bourdieu): Die soziale und natürliche Welt erscheint als selbstverständlich. Es geht um die unsichtbaren Grenzen des Denkbaren und Sagbaren – also das, was so selbstverständlich ist, dass es nicht mehr hinterfragt wird. Das Kontinuum zeigt auch, an welchen Stellen Veränderung möglich wird. Potenzial und Kontrolle über Rahmenbedingungen bieten Ansatzpunkte für Veränderung – aber tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen erfordern oft auch ein Bewusstsein für die Wirkmächtigkeit von struktureller Macht, sozialen Praxen und kulturellen Selbstverständlichkeiten. Mitgliedsverbände tragen zwei gegensätzliche Versprechen in sich: Verlässlichkeit für ihre Basis – und Gestaltungskraft, um auf neue Umweltbedingungen reagieren zu können. Kapitel 3 fasst das prägnant zusammen: Verbände seien „geprägt durch historisch gewachsene Strukturen, hohe Pfadabhängigkeit … sowie durch die Balance von Tradition und Wandel“. Benjamin Haas hebt die strategische Konsequenz hervor: „Zukunftsfähigkeit entsteht … aus der bewussten Balance zwischen Offenheit und Stabilität, zwischen Innovation und Tradition“ (Haas 2025, 101). Systemtheoretisch liegt hier der Kern: Organisationen stabilisieren sich durch wiederholte Entscheidungen, erzeugen aber Wandlungsfähigkeit, indem sie Variationen zulassen. In der Praxis heißt das: Würdigen→Experimentieren→Reflektieren→Skalieren – kurze Lernzyklen statt singulärer ‚Big-Bang-Projekte‘. Im Projekt hat ein*e Teilnehmer*in das so formuliert: „Machen – testen – umsetzen … kleine Pilotmaßnahmen, schnell evaluieren.“ 5.3 Warum Gefühle zentral sind Organisationen bestehen aus Sinn- und Entscheidungsketten; jede Veränderung stellt diese Sinnketten in Frage. Im Projekt wurde das so diskutiert: „Emotional ist auch die Angst vor Neuem, das ‚Nicht loslassen können/wollen‘“. Die Angst meldet hier: Es droht Identitäts- oder Kontrollverlust. Aus einer systemischen Perspektive gilt Widerstand deshalb nicht als Störung, sondern als Sensor für Passungsprobleme zwischen neuem Impuls und bestehender Selbstreferenz.

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