Jenseits der Gewohnheit. Mitgliedschaft, Macht und Wandel neu denken

35 Doch die Funktion dieses Mythos reicht weiter: Er sorgt für geregelte Abläufe und Orientierung, indem Erwartungen stabilisiert und verständliche Anknüpfungspunkte für Kommunikation geschaffen werden. Gleichzeitig werden die tatsächlichen Grenzen im Umgang mit Unvorhersehbarem und Unklarheiten oft ausgeblendet. Auch die Forschung zu Organisationsentscheidungen greift diesen Zwiespalt auf. Sie zeigt, dass Rationalität innerhalb von Organisationen keine objektive Kategorie darstellt, sondern vielmehr als Ergebnis kultureller Regeln und Deutungen fungiert (Heracleous 1994). Was in einem bestimmten Kontext als rational gilt, beruht auf vorherrschenden Normen und Mustern der Kommunikation. Rationalität wird so zur systeminternen Konstruktion und verliert ihren Anspruch als neutraler Maßstab. Ein weiteres charakteristisches Merkmal ist die selektive Bewertung von Ergebnissen: Erfolg wird gerne als Beleg für die Wirksamkeit rationaler Steuerung interpretiert, während Misserfolge unsichtbar bleiben. Diese Sichtweise verkürzt die Zusammenhänge und setzt auch zufällige, kontextbedingte oder scheiternde Prozesse mit rationaler Planung gleich. Besonders das Herausstellen von Erfolg als Produkt gezielter Steuerung verstärkt die Illusion, dass ‚richtige‘ Planung zwangsläufig zum Ziel führen müsse (Simon 2009). Die Folge sind Verzerrungen, die sich durch Bestätigungsfehler und Deutungseffekte noch verstärken. In komplexen Umfeldern tendieren Organisationen dazu, die eigenen Rationalitätsannahmen zu bestätigen, statt sie infrage zu stellen. Dies kann Lernmöglichkeiten blockieren und trägt dazu bei, an der Illusion vollständiger Kontrollierbarkeit festzuhalten. Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass Organisationen Rationalität nicht als objektives Instrument, sondern als gesellschaftlich geprägtes und narratives Muster begreifen sollten. Planung bleibt wichtig, verliert aber ihren absoluten Charakter. Statt vermeintlicher Sicherheit ist es hilfreicher, Rationalität als relativ begrenzt und wandelbar zu begreifen – nur so entsteht Raum für Lernen, kritische Reflexion und Weiterentwicklung. 5.1.5 Entscheidung und Kommunikation sind Basisfunktionen der Organisation Organisationen sind vor allem durch eines geprägt: Sie bestehen, weil ständig Entscheidungen getroffen und miteinander verknüpft werden. Niklas Luhmann beschreibt dieses Prinzip als eine Art Selbstbeobachtung und -steuerung, bei der jede Entscheidung gewissermaßen den Anstoß für weitere, nachfolgende Handlungs- und Diskussionsprozesse liefert. So entsteht ein dynamischer Ablauf, bei dem ein Schritt immer den nächsten vorbereitet, die Kommunikation hält das Ganze am Leben (Luhmann 2000). Bemerkenswert ist dabei: Entscheidungen bieten niemals einen endgültigen Abschluss. Zwar wird durch jede Wahl ein Stück der vorhandenen Unsicherheit beseitigt – die Komplexität wird reduziert – doch zugleich wird damit der Blick auf weitere Konsequenzen und Alternativen gelenkt. Es sind gerade diese offenen Anschlussfragen, die Organisationen dazu bringen, ihre Aktivitäten immer weiter in neue Entscheidungsrunden zu führen.

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