130 8.4 Irritationspotentiale 8.4.1 Von der Adressat*innen- zur Nutzer*innen-Perspektive „Und ich finde es einfach so paradox, weil egal welche Studie man jetzt nimmt, wir haben die heute auch schon ein paar Mal zitiert, dass der Wunsch ja auch bei den jungen Menschen eigentlich nach einem werteorientierten Handeln, nach gesellschaftlichem Zusammenhalt etc. besteht. Aber wir können das einfach nicht als Vereine und Verbände für uns nutzen. Sei es jetzt durch Mitgliedschaften oder Engagement oder sonstige Formen des Supports. Und das finde ich einfach so schade und das macht mich irgendwie auch so ratlos und wütend und alles zusammen, weil eigentlich gibt es ja das Potenzial.“ Es wurde nun bereits mehrfach angedeutet: Aus Verbandsperspektive scheint sich die Frage aufzudrängen, wie das eigene Anliegen, die eigene Arbeit und die sich damit für Mitglieder und Engagierte bietenden Möglichkeiten so vermitteln lassen, dass möglichst viele Menschen sie als attraktiv wahrnehmen. Mitgliedergewinnung erscheint so in erster Linie als Frage der richtigen und wirkungsvollen Kommunikation des eigenen Angebots. Die Beschäftigung mit diesem (angenommenen) direkten Zusammenhang zwischen Angebot, richtiger Adressierung und daraus folgender Nachfrage ist in der Sozialarbeitsforschung als „Adressat*innen-Forschung“ bekannt. Adressat*innen-Forschung versucht, die Lebenssituation der Adressat*innen, ihre Ressourcen, Problemlagen und ihre Deutungen zu rekonstruieren und möglichst gut zu verstehen, um daraus Ableitungen für die Adressierung ziehen zu können (van Rießen 2016; Oelerich/ Schaarschuch 2013). Vereinfacht gesagt stellt sie die Frage: Wie müssen wir unser Angebot darstellen, damit es unsere Adressat*innen anspricht? Dieser Perspektive wurde in der Sozialarbeitsforschung eine andere Sichtweise entgegengestellt: Denn die Zielgruppen Sozialer Arbeit und ihrer Angebote sind nie nur passive Empfänger*innen, sondern immer aktive und produktive Subjekte, die sich ihre eigene Lebenswelt aneignen und ihre Lebensbedingungen bearbeiten; dabei machen sie sich auch die Angebote Sozialer Arbeit zunutze. Sie sind also aktiv handelnde Nutzer*innen. Im Anschluss daran fragt die „Nutzer*innen- “ beziehungsweise „Nutzungs-Forschung“ danach, welche Aspekte eines Angebots sich für die jeweilige Zielgruppe mit Blick auf die jetzt gerade anstehenden Aufgaben der Lebensführung als nützlich darstellen und welche nicht. „Nützlich“ meint dabei „etwas ‚Nützliches und für Wert Gehaltenes‘“ (van Rießen 2016: 83). Die Frage lautet also: Inwiefern, unter welchen Bedingungen und wann ist ein Angebot für diejenigen, die es nutzen (sollen), nützlich, tauglich und gebrauchbar? Welche Faktoren und Bedingungen steigern oder limitieren den Nutzen des Angebots für sie? In der Sozialen Arbeit geht mit dieser veränderten Forschungsfrage eine andere Perspektive auf die betroffenen Menschen einher: vom passiv empfangenden Objekt paternalistischer Hilfe werden sie zu aktiv und aus ihrer Perspektive sinnhaft handelnden Subjekten. Die Nicht-Nutzung eines Angebots oder die Nicht-Inanspruchnahme einer Unterstützungsleistung kann dann als Hinweis auf deren mangelnde Tauglichkeit und Gebrauchbarkeit gelesen werden.
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