Jenseits der Gewohnheit. Mitgliedschaft, Macht und Wandel neu denken

98 7.5 Strategische Implikationen und Impulse für die Organisationsentwicklung Die Frage nach Erwartungen, Rollenbildern und notwendigen Entwicklungsschritten innerhalb von Organisationen ist zentral für die Verzahnung von Haupt- und Ehrenamt sowie für die Gewinnung neuer Zielgruppen. Gerade die zunehmende Vielfalt an Engagementformen erfordert von Organisationen eine differenzierte Betrachtung: Wer beteiligt sich aus welchen Gründen? Was erwarten Engagierte und Fördernde von der Organisation – und umgekehrt? Und welche strukturellen Konsequenzen ergeben sich daraus für die Organisation als Ganzes? 7.5.1 Gegenseitige Erwartungen, Zielkonflikte und Gestaltungsräume Das Verhältnis zwischen Mitgliederverbänden und ihren Engagierten ist heute von einem strukturellen Spannungsfeld geprägt: Obwohl Verbände bereits zahlreiche Anstrengungen unternehmen und innovative Konzepte aufgelegt haben, um neue Zielgruppen zu erreichen, zeigt sich doch, dass sie weiterhin nach Verlässlichkeit, Planbarkeit und langfristiger Bindung streben. Demgegenüber bevorzugen „neue Engagierte“ zunehmend Flexibilität, situative Beteiligung und unmittelbare Wirkungserlebnisse. Dieser Zielkonflikt ist kein vorübergehendes Missverständnis, sondern Ausdruck tiefgreifender Veränderungen im Selbstverständnis von Engagement, die in der Forschung unter dem Begriff der „Pluralisierung des Engagements“ gefasst werden (Strachwitz et al. 2020). Der Wunsch nach flexiblen Beteiligungsformaten spiegelt veränderte Lebensrealitäten wider – geprägt von Mobilität, Zeitknappheit und der Suche nach individualisierter Selbstwirksamkeit. Entscheidend ist: Die Lösung liegt nicht in einem bloßen Entweder-Oder. Verbände und Organisationen, die versuchen, neue Zielgruppen in alte Strukturen zu pressen, riskieren, deren Potenziale zu verlieren. Empirische Befunde zeigen, dass starre Strukturen gerade bei jungen Erwachsenen und digitalaffinen Zielgruppen als hinderlich empfunden werden und Engagementbereitschaft mindern können (Milovanovic et al. 2022). Umgekehrt birgt die völlige Auflösung bewährter Strukturen die Gefahr von Beliebigkeit und Überforderung – insbesondere dann, wenn Orientierungsangebote und Verlässlichkeit fehlen, die gerade für nachhaltige Wirksamkeit erforderlich sind (BMFSFJ 2015). Gefragt ist stattdessen eine strategische Neujustierung, die beide Perspektiven miteinander verbindet. Dieser Ansatz kann als „balancierte Governance“ beschrieben werden, die formale Stabilität mit prozessualer Offenheit verbindet. So können Organisationen unterschiedliche Engagement-Typen adressieren, ohne ihre Grundstrukturen aufzugeben. Das bedeutet konkret: Organisationen müssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass Bindung ausschließlich durch Dauer entsteht. Auch kurzfristige, punktuelle oder digitale Beiträge leisten wertvolle Impulse für die Organisationsentwicklung. Aktuelle Analysen unterstreichen, dass gerade projektbasiertes oder Mikro-Engagement wertvolle Innovationsimpulse liefern und organisationsinterne Lernprozesse anregen können (Schürmann 2013). Wer unterschiedliche Beitragstypen anerkennt und

RkJQdWJsaXNoZXIy MTI4Nzg0OQ==