Jenseits der Gewohnheit. Mitgliedschaft, Macht und Wandel neu denken Ein Denk-Werkzeugkasten für Mitgliedsverbände INSTITUT FÜR SOZIALARBEIT UND SOZIALPÄDAGOGIK E. V. (HRSG.)
In Kooperation mit Impressum Herausgeber Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. Zeilweg 42, 60439 Frankfurt a. M. info@iss-ffm.de Telefon 069 95789-0 Frankfurt am Main, November 2025 Autor*innen Judith Dubiski Wolfgang Kleemann unter Mitarbeit von: Kimberly Bauer, Maike Beutler, Wiebke Hübler, Matthias Laurisch, Susanne Rindt und Michael Rosellen sowie Céline Arriagada und Benjamin Haas.
Inhalt 1 Einleitung 1 2 Gemeinsam Zukunft gestalten – Mitgliedsverbände im Wandel 3 2.1 Zu dieser Publikation 3 2.2 Das Projekt „Zukunftssicherung von Mitgliederverbänden: Innovative Strukturen für nachhaltiges Engagement“ 6 3 Spannungsfelder und Themen 10 4 "Veränderung ist kein Projekt. Sie ist ein Möglichkeitsraum.” - Wie sich anders über Entwicklung in Mitgliedsverbänden nachdenken und sprechen lässt 18 4.1 Verortung 20 4.2 Aneignung 21 4.3 Anschlüsse 22 4.4 Kommunikation 23 4.5 Irritation 24 4.6 Verantwortung 25 4.7 Handlungsräume 26 4.8 Macht 27 4.9 Auseinandersetzung statt Harmonie 28 4.10 Literatur und Quellen 29 5 Grundsätzliches zum Verständnis von Organisation undWandel 31 5.1 Systemische Grundlagen 32 5.2 Der systemische Blick auf Macht 37 5.3 Warum Gefühle zentral sind 39 5.4 Schlüsselpersonen 40 5.5 Literatur 42 6 Engagement in Mitgliedsorganisationen (Expertise von C. Arriagada) 45 6.1 Einleitung 46 6.2 Engagement in Deutschland: Grundlagen, Begriffe und Kontext 48
6.3 Engagement in Mitgliedsorganisationen: Herausforderungen, Potenziale und die Rolle der Mitgliedschaft 59 6.4 Handlungsempfehlungen für Mitgliedsorganisationen 68 6.5 Literatur 71 7 Mitgliedschaft im Wandel. Wege zur zukunftsfähigen Verbandskultur (Expertise von B. Haas) 77 7.1 Einleitung 78 7.2 Begriffe, Verständnisse und Diskurse 81 7.3 Zielgruppen und Strukturen bisheriger Verbandsarbeit 86 7.4 Neue Zielgruppen und Formen – Impulse für die Verbandsentwicklung 90 7.5 Strategische Implikationen und Impulse für die Organisationsentwicklung 98 7.6 Fazit: Vom Zielkonflikt zur lernenden Organisation – Konsequenzen für die Organisationsentwicklung 102 7.7 Literatur 105 8 Verbandliche Rahmenbedingungen und Erneuerungsprozesse im Vergleich (Expertise von J. Dubiski) 109 8.1 Einleitung: Zum Entstehungskontext dieser Expertise 110 8.2 Strukturen, Ansätze, Praktiken und Lösungsvorschläge 112 8.3 „Es gibt kein Erkenntnisproblem.“ – Hypothesen und Fragen 123 8.4 Irritationspotentiale 130 8.5 Literatur 135 9 Kommentierungen aus den Verbänden 137 9.1 Zu Erkenntnissen aus dem Gesamt-Projekt 137 9.2 Zu Kapitel 3: Themen und Spannungsfelder 139 9.3 Zu Kapitel 5: Entwicklung von Organisationen 145 10 Stichwortverzeichnis 147
1 1 Einleitung Dieser Diskussionsbeitrag bricht mit einer zentralen Tradition des Verbands- und Engagementdiskurses: Er stellt nicht die nächste Sammlung von Best Practices vor, sondern wagt einen systemischen Blick auf die Gewohnheiten und Tabus, die echte Innovation in Mitgliedsverbänden verhindern. Während Forschung und Praxis überwiegend bereits erprobte Lösungsansätze systematisieren und bewährte Praktiken im Kontext von Verbandsentwicklung, Engagement und Mitgliedschaft reflektieren, richten wir das Licht darauf, was bislang undenkbar oder unaussprechbar blieb: Dass Organisation selbst zur Schwelle für Engagement wird. Dass Mitgliedschaft eine “homogenisierende Transformation” verlangt, die Vielfalt strukturell verhindert. Dass die Darstellung von Engagement als ‚‚voraussetzungsreich‘ systematisch Ausschlüsse produziert. Das Neue an diesem Ansatz: Dekonstruktion statt Optimierung Anstatt verbandliche Strukturen, Prozesse und Routinen zu verbessern, hinterfragen die folgenden Texte deren Grundannahmen. Eine Umkehr von der Adressat*innen- zur Nutzer*innenperspektive beispielsweise kann das Verständnis von Mitgliedergewinnung und -bindung grundlegend verändern. Tabubruch als Innovationsstrategie Die Texte benennen explizit Tabus, unhinterfragte Annahmen und ritualisierte Praktiken, die den Horizont begrenzen, und fordern deren bewusste „Irritation“ als Weg zu neuen Perspektiven. Macht- und systemkritische Analyse Die Verbandslandschaft wird als "Berechtigungsraum" analysiert, der Zugang zu Ressourcen und Teilhabe reguliert – eine Perspektive, die über klassische Organisationsentwicklung hinausgeht. Transformationslogik sichtbar machen Die Texte verweisen darauf, dass jede formale Mitgliedschaft eine Eingliederung voraussetzt – oftmals verbunden mit der Erwartung einer „homogenisierenden Transformation“. Kritisch reflektiert führt diese Erkenntnis zu weitreichenden Konsequenzen vor allem für Diversitätsstrategien. Die Texte richten sich an Praktiker*innen, Wissenschaftler*innen und Entscheidungsträger*innen, die bereit sind, strukturelle Gewissheiten in Frage zu stellen und echte, systemische Veränderungen anzugehen. Sie bieten keine schnellen Lösungen, sondern Denkwerkzeuge für grundlegende Erneuerung.
2 Während klassische Ansätze fragen „Wie können wir unsere Strukturen anpassen?", fragen diese Texte: „Welche unserer Grundannahmen verhindern echten Wandel?" Diese Umkehr der Fragerichtung macht diese Publikation zu einem Reflexionsinstrument für zukunftsweisende Verbandsentwicklung. Wer Verbände nicht nur modernisieren, sondern neu denken will, findet hier die wissenschaftlich fundierten Grundlagen und den Mut zur notwendigen Selbst-Irritation. Der entscheidende Unterschied:
3 2 Gemeinsam Zukunft gestalten – Mitgliedsverbände im Wandel Von Judith Dubiski & Wolfgang Kleemann 2.1 Zu dieser Publikation Mitgliedsverbände sind Orte, an denen Menschen sich engagieren, Gemeinschaft erleben und Gesellschaft mitgestalten. Doch viele Verbände stehen heute vor ähnlichen Herausforderungen: weniger Nachwuchs, veränderte Erwartungen an Engagement und Strukturen, die nicht mehr so recht zu den Lebensrealitäten der Menschen passen. In unserem Projekt haben wir gemeinsam mit der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und dem Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU) neue Ideen entwickelt, wie sich Verbände so aufstellen können, dass sie auch in Zukunft attraktiv, handlungsfähig und offen für unterschiedliche Formen des Mitmachens sind. Grundlage dafür waren wissenschaftliche Analysen und das im intensiven Austausch zwischen Ehren- und Hauptamtlichen, Fachleuten und Engagierten gewonnene Erfahrungs- und Reflexionswissen aus beiden Verbänden. Weitere Informationen zum Projekt unter 2.2 Mit der vorliegenden Publikation stellen wir einen Fundus an Reflexionsfragen, Denkimpulsen, wissenschaftlichen Analysen und methodischen Hinweisen zur Verfügung, der die Arbeit an zentralen Zukunftsfragen der Verbandsentwicklung anregen kann1. Die „Spannungsfelder und Themen“ (Kapitel 3) fassen die grundlegenden Zielkonflikte in Mitgliedsverbänden zusammen – etwa zwischen Stabilität und Flexibilität, Ehren- und Hauptamt oder formeller Mitgliedschaft und informellem Engagement. Das Kapitel stellt Leitfragen bereit, mit denen Verbände diese Spannungsfelder konstruktiv bearbeiten und für die eigene Weiterentwicklung nutzen können. Die Spannungsfelder und Themen bringen damit kondensiert die zentralen Dimensionen auf den Punkt, um die sich die Zukunftsfragen der Verbandsentwicklung drehen. Sie beruhen auf den wissenschaftlichen Expertisen und den Diskussionen in Beiratssitzungen und Fachgesprächen während des Projekts. Während also Kapitel 3 die Frage beantwortet: „Worüber müssen wir nachdenken und diskutieren?“, stellt Kapitel 4 unter der Überschrift „Veränderung ist kein Projekt. Sie ist ein Möglichkeitsraum. – Wie sich anders über Entwicklung in Mitgliedsverbänden nachdenken und 1 Im Rahmen der Umsetzung des Projekts bzw. der Erstellung dieser Publikation wurde auch auf den Einsatz generativer Systeme Künstlicher Intelligenz (KI) zurückgegriffen. Die KI-gestützten Verfahren dienten der Literaturrecherche. Sämtliche durch die KI generierten Inhalte wurden einer sorgfältigen inhaltlichen Prüfung unterzogen, um fachliche Korrektheit und Kohärenz sicherzustellen. Die Datenschutzbestimmungen des DSGVO wurden eingehalten.
4 sprechen lässt“ die Frage: „Wie müssen wir nachdenken und diskutieren?“, um im Nachdenken und Diskutieren über die teilweise vielleicht schon bekannten Themen und Fragen nicht in alte Muster zu verfallen und in die immer gleichen Sackgassen zu laufen. Dieses Kapitel beruht einerseits auf Reflexionen über das und aus dem Projekt, andererseits folgt es Erkenntnissen aus den wissenschaftlichen Expertisen (Kapitel 6 bis 8) und Erfahrungswerten aus der Organisationsentwicklung. Grundlegend ist der Gedanke, dass Veränderung und Innovation nur dort anfangen können, wo auch anders und neu nachgedacht und diskutiert wird. Kapitel 5 „Grundsätzliches zum Verständnis von Organisation und Wandel“ bietet dazu ein theoretisches Fundament aus systemischer Perspektive. Es erklärt, wie Organisationen funktionieren, warum Macht und Kultur für Veränderung entscheidend sind, und beschreibt Gestaltungsprinzipien für einen Wandel, der Stabilität und Innovation in Balance hält. Die Kapitel 6 und 7 schließlich stellen kompakt empirisches Wissen aus der Engagement- und Verbändeforschung sowie – in Kapitel 8 – aus den beiden beteiligten Verbänden AWO und NABU zusammen. Diese Kapitel bieten damit eine fundierte Wissensbasis, die den ‚gefühlten Wahrheiten‘ stichhaltige Fakten zur Seite (oder entgegen-) stellt und – insbesondere in Kapitel 8 – zum Weiterdenken einlädt: Die Expertise „Engagement in Mitgliedsorganisationen“ von Céline Arriagada gibt einen fundierten Überblick über die aktuelle Engagementlandschaft in Deutschland. Sie beleuchtet, wer sich engagiert und warum, welche Trends und Herausforderungen sich abzeichnen und wie sich Engagement in Mitgliedsorganisationen vom Engagement insgesamt unterscheidet. Auf Basis umfangreicher Studien werden praxisnahe Empfehlungen entwickelt, wie Verbände ihre Strukturen an veränderte Erwartungen anpassen und Engagierte langfristig binden können. Die Expertise „Mitgliedschaft im Wandel. Wege zur zukunftsfähigen Verbandskultur“ von Benjamin Haas untersucht, wie Mitgliedsverbände neue Zielgruppen erreichen, vielfältige Engagementformen einbinden und die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamt zukunftsfähig gestalten können. Sie zeigt auf, wie strategische Begriffswahl, flexible Mitgliedschaftsmodelle und Co-Kreation helfen, Vielfalt zu fördern und Stabilität mit Offenheit zu verbinden – und entwickelt dafür konkrete Handlungsperspektiven. Die Expertise „Verbandliche Rahmenbedingungen und Erneuerungsprozesse im Vergleich“ von Judith Dubiski vergleicht die Strukturen von AWO und NABU auf allen Ebenen, beschreibt aktuelle Ansätze zur Mitgliedergewinnung und Engagementförderung und formuliert Hypothesen zu den zentralen Hürden für Veränderung. Sie bietet Impulse, wie diese Blockaden durch bewusste Irritation und neue Perspektiven aufgebrochen werden können. Im Anschluss an die Expertisen denken in Kapitel 9 Vertreter*innen der beiden beteiligten Verbände – AWO und NABU – in ihren Kommentierungen aus unterschiedlichen Perspektiven darüber nach, was einzelne Themen und Fragestellungen – wie beispielsweise die Spannungsfelder aus Kapitel 3 – für ihren Verband bedeuten, wie damit zu arbeiten oder worüber weiter zu diskutieren ist.
5 Je nach Ihrer aktuellen Situation oder Fragestellung können Sie gezielt mit einem der Texte beginnen: Wenn Sie verstehen möchten, wie sich Engagement in Deutschland insgesamt entwickelt, welche Trends und Herausforderungen sich abzeichnen und welche Faktoren Menschen zum Mitmachen bewegen oder davon abhalten, dann bietet die Expertise „Engagement in Mitgliedsorganisationen“ einen guten Einstieg. Stehen bei Ihnen gerade Fragen zur Gewinnung neuer Zielgruppen, zur Öffnung Ihrer Organisation oder zur besseren Verbindung von Haupt- und Ehrenamt im Mittelpunkt, finden Sie in der Expertise „Mitgliedschaft im Wandel“ konkrete Strategien und erprobte Ansätze. Falls Sie neugierig sind, wie andere Verbände – in diesem Fall AWO und NABU – organisiert sind, welche Stärken und Hürden sich in der Praxis zeigen und welche Strukturen Veränderung erleichtern oder erschweren, liefert die Expertise „Verbandliche Rahmenbedingungen und Erneuerungsprozesse im Vergleich“ wertvolle Einblicke. Möchten Sie mit Ihrem Team Spannungsfelder klar benennen und daraus gemeinsam Ideen ableiten, lohnt sich ein Blick in die „Spannungsfelder und Themen“. Die dort formulierten Leitfragen können direkt als Gesprächsgrundlage oder Workshop-Impuls dienen. Wenn Sie tiefer in das Verständnis von Organisation, Macht und Wandel einsteigen möchten – etwa um Veränderungsprozesse in Ihrer Organisation bewusst zu gestalten – ist der Text „Grundsätzliches zum Verständnis von Organisation und Wandel“ eine hilfreiche theoretische Grundlage. Für einen Ausgangspunkt direkt bei zwei exemplarischen Verbänden lesen Sie die Kommentierungen in Kapitel 9. Besonders gewinnbringend kann es sein, Texte zu kombinieren: Wer zum Beispiel die praxisnahen Empfehlungen aus „Mitgliedschaft im Wandel“ mit den strukturellen Einblicken aus „Verbandliche Rahmenbedingungen…“ verbindet, erkennt schnell, wie allgemeine Strategien auf konkrete organisatorische Realitäten angepasst werden können. Ebenso ergänzen sich die „Spannungsfelder und Themen“ und die systemischen Überlegungen aus „Grundsätzliches zum Verständnis von Organisation und Wandel“: Hier entstehen Verbindungen zwischen der Analyse alltäglicher Zielkonflikte und den tieferliegenden Mustern, die Veränderungen prägen. So können Sie – je nach Bedarf – punktuell in ein Thema einsteigen oder sich durch die Kombination verschiedener Texte ein umfassendes Bild verschaffen, das von der theoretischen Fundierung bis zur konkreten Umsetzung reicht. Zahlreiche Querverweise und das Stichwortverzeichnis im Anhang laden dazu ein, anhand einzelner Themen und Begriffen durch die Publikation zu ‚springen‘ und diese aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Wie nutzen Sie die Texte am besten?
6 2.2 Das Projekt „Zukunftssicherung von Mitgliederverbänden: Innovative Strukturen für nachhaltiges Engagement“ Gemeinwohlorientierte Mitgliederverbände2 sind von großer Bedeutung für die deutsche Gesellschaft und eine zentrale Ausdrucksform bürgerschaftlichen Engagements. Sie fördern das demokratische Engagement, setzen wichtige gesellschaftliche Themen auf die politische Agenda und unterstützen soziale, kulturelle und ökologische Anliegen. Verbände bringen Menschen mit ähnlichen Interessen und Werten zusammen und stärken soziale Bindungen, sie vertreten die Anliegen marginalisierter Gruppen, schaffen Gemeinschaft und Selbstwirksamkeitserlebnisse und fördern Teilhabe und sozialen Zusammenhalt. Ein Großteil der in Deutsch-land ehrenamtlich engagierten Menschen ist in Verbänden organisiert. Viele Mitgliederverbände stehen jedoch zunehmend vor Strukturproblemen und Nachwuchssorgen, da sich gesellschaftliche Anforderungen und Engagementformen im Wandel befinden. Traditionelle Organisationsstrukturen passen oft nicht mehr zu den Bedürfnissen der (potenziell) Engagierten. Zu-dem erschweren bürokratische Hürden und der demografische Wandel die Gewinnung von engagiertem Nachwuchs jeden Alters. Diese Herausforderungen erfordern eine Überprüfung der internen Strukturen von Verbänden, innovative Ansätze und flexible Anpassungen, um die Zukunftstauglichkeit sicherzustellen. Gerade große und komplexe Organisationen stehen in den notwendigen Anpassungsprozessen vor der Herausforderung, vielfältige Stakeholder zu berücksichtigen und mit gewachsenen Pfadabhängigkeiten umzugehen. Im Rahmen eines vom AWO Bezirksverband Niederrhein e.V. initiierten und von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) geförderten Projekts sollten für zwei unterschiedlich aufgebaute Verbände (AWO und NABU) Lösungsansätze und neue Gestaltungsprinzipien erarbeitet werden. Das Projekt lief vom 01. November 2024 bis zum 31. Dezember 2025. Neben dem AWO Bezirksverband Niederrhein und dem AWO Bundesverband waren der NABU Nordrhein-Westfalen und der NABU Bundesverband beteiligt; die wissenschaftliche Begleitung lag beim Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik ISS e.V. Ausgehend von bestehenden verbandlichen Wissensbeständen und ergänzenden Erkenntnissen aus drei zu Beginn erstellten Expertisen wurden in einer Reihe von drei Fachgesprächen unter Beteiligung von Fachkräften, Vertreter*innen übergeordneter (Entscheidungs-)Ebenen der Verbände, Praktiker*innen und lokalen Engagierten notwendige, mögliche, gewünschte, stockende, verhinderte, unmögliche und unerwartete Veränderungen in und von Mitgliederverbänden diskutiert. Ziel war dabei, gängige Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten daraufhin zu befragen, welche Ausschlüsse und Engführungen sie produzieren, welche Entwicklungen sie befördern und 2 Die Begriffe “Mitgliedsverband” und “Mitgliederverband“ nutzen wir synonym.
7 welche sie verhindern. Ein Projektbeirat begleitete in regelmäßigen Sitzungen diese Diskussionen und trieb sie selbst weiter voran. Ein erster Workshop im Dezember 2024 diente dem vertieften gegenseitigen Kennenlernen der beiden Verbände; es nahmen aus beiden Verbänden Personen teil, die auf der Orts-, Kreis-/ Bezirks- und Bundesebene tätig bzw. aktiv sind. Zugleich war der Workshop ein wesentliches Moment der Erkenntnisgewinnung für die Expertise „Verbandliche Rahmenbedingungen und Erneuerungsprozesse im Vergleich“, die wiederum Zwischenergebnis und Grundlage für den weiteren Projektverlauf war. Nachdem der Workshop also auf den horizontalen und vertikalen Vergleich der Strukturen, Routinen und Praktiken der beiden beteiligten Verbände zielte, legte das erste Fachgespräch am 21.03.2025 den Fokus auf die Menschen: Hier ging es zentral um die Frage, wie Menschen zu Engagierten werden, welches die ausschlaggebenden Momente einer Engagement-Biografie sind und wodurch Menschen vom Engagement abgehalten werden oder ihr Engagement wieder beenden. Teilnehmende waren auch hier Aktive aus beiden Verbänden, mit einem Schwerpunkt auf ehrenamtlich Engagierte. Für das zweite Fachgespräch am 12.06.2025 wurden den (hauptamtlich in beiden Verbänden tätigen) Teilnehmenden alle drei Expertisen sowie eine aus diesen und dem bisherigen Diskussionsstand generierte Zusammenstellung von Spannungsfeldern und Themen der Verbandsentwicklung zur Verfügung gestellt. Anhand dieser stark ‚kondensierten‘ Inhalte wurde sowohl über konkrete Veränderungsnotwendigkeiten als auch – und das war ein neuer Aspekt – damit verbundene Emotionen, Haltungen und Denkweisen diskutiert. Beim dritten Fachgespräch am 08.07.2025 schließlich wurde gemeinsam mit den ehren- und hauptamtlich tätigen Teilnehmenden (von denen die meisten schon beim ersten und/oder zweiten Fachgespräch dabei gewesen waren) aus beiden Verbänden der ‚Spagat‘ zwischen grundsätzli- • Kimberly Bauer, AWO Niederrhein • Maike Beutler, AWO Bundesverband • Matthias Laurisch, NABU Bundesverband • Susanne Rindt, AWO Bundesverband • Ulf Graeber, NABU NRW (bis Juni 2025) • Wiebke Hübler, NABU NRW • Michael Rosellen, AWO Niederrhein • Judith Dubiski, ISS e.V. • Wolfgang Kleemann, ISS e.V. Mitglieder des Projektbeirats
8 chen theoretischen Überlegungen zu Organisation und Wandel einerseits sowie konkret umsetzbaren, projektförmigen Veränderungsschritten andererseits methodisch umzusetzen versucht. Als neues Element kam hier neben Fragen der Macht in (demokratischen) Organisationen und der (Ent-)Tabuisierung von Angst insbesondere die Rolle von Schlüsselpersonen bzw. „Supercommunicators“ (Ch. Duhigg) zur Sprache. Der im Projektverlauf immer wieder zum Tragen kommenden Schrittfolge vom Abstrakten zum Konkreten (und zurück) folgen auch die hier vorliegenden Texte. 1. Projektbeiratstreffen, 29.10.2024 2. Projektbeiratstreffen, 22.11.2024 Workshop am 17.12.2024 online Vergabe der Expertisen 3. Projektbeiratstreffen, 31.01.2025 Fachgespräch 1 am 21.03.2025 in Hilden 4. Projektbeiratstreffen, 25.03.2025 Fertigstellung der drei Expertisen Fachgespräch 2 am 12.06.2025 online 5. Projektbeiratstreffen, 02.07.2025 Fachgespräch 3 am 08.07.2025 in Düsseldorf 6. Projektbeiratstreffen, 25.09.2025 Transferphase – Herbst 2025 Meilensteine im Projektverlauf
9 SPANNUNGSFELDER UND THEMEN
10 3 Spannungsfelder und Themen von Wolfgang Kleemann & Judith Dubiski Dieser Text fasst grundlegende zu beobachtende Zielkonflikte in Mitgliedsverbänden zusammen und spiegelt zentrale, in der Verbandsforschung wiederkehrende Spannungsfelder wider. Er greift Themenfelder des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses zu Mitgliedsverbänden, Ehrenamt, Mitgliederentwicklung/-bindung und Verbandsentwicklung auf, reflektiert und verbindet die im Kontext des Projektes entstandenen Expertisen und stellt Leitfragen bereit, mit denen interessierte oder verantwortliche Akteure in Mitgliedsverbänden diese Spannungsfelder konstruktiv bearbeiten und für die Weiterentwicklung nutzen können. 3.1 Prämissen Mitgliedsorganisationen lassen sich verstehen als geprägt durch historisch gewachsene Strukturen, hohe Pfadabhängigkeit, spezifische Rechts- und Finanzierungsbedingungen sowie durch die Balance von Tradition und Wandel. Wer sich für ausführlichere Informationen und Hinweise zu einem systemischen Verständnis von Mitgliedsverbänden als Organisationen interessiert, findet die theoretischen Grundlagen in Kapitel 5 – „Grundsätzliches zum Verständnis von Organisation und Wandel“. 3.2 Spannungsfelder als Entwicklungsimpuls Die folgenden Spannungsfelder stellen Grunddynamiken in Mitgliedsverbänden dar, die kontinuierlich bearbeitet werden müssen: Sie sind nicht als Hindernisse zu verstehen, sondern als zentrale Energiequellen für Entwicklung und Innovation. Entscheidend ist, Spannungen nicht auflösen zu wollen, sondern sie bewusst als Lern- und Gestaltungschance zu begreifen. Stabilität ↔ Flexibilität Mitgliedsverbände benötigen einerseits verlässliche Strukturen und Satzungen, die Rechtssicherheit, Glaubwürdigkeit und Planungssicherheit schaffen, andererseits aber auch offene Prozesse, flexible Beteiligungswege und Möglichkeiten zur Erfahrung von unmittelbarer (Selbst-)Wirksamkeit der Akteure. Haas betont die Notwendigkeit einer „balancierten Governance“, die feste Strukturen mit offenen Beteiligungsformaten kombiniert. Erfolgreiche Organisationen schaffen „ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Dynamik“ durch hybride Steuerungsmodelle und partizipative Experimente (Haas 2025: 100). Diese Balance ermöglicht es, sowohl langfristige Verlässlichkeit als auch situative Anpassungsfähigkeit zu gewährleisten.
11 Ehrenamt ↔ Hauptamt Das Verhältnis zwischen Ehrenamt und Hauptamt ist oft ritualisiert, beruht auf eingespielten Rollen und festgelegten gegenseitigen Erwartungen. Dubiski beschreibt dieses „etablierte Verhältnis zwischen Haupt- und Ehrenamt“ als „eher Teil des Problems als Teil der Lösung“ (Dubiski 2025: 125). Wippermann (2023) betont – in diesem Fall für die Caritas: „Die Leistung [die der Verband erbringt] [...] basiert elementar auf dem Zusammenwirken von hauptamtlichen Fachkräften und ehrenamtlich Engagierten. [...] Es wäre falsch, gefährlich und herabsetzend, würde man freiwillig Engagierte als ‚wertvolle Hilfskräfte‘ oder Ersatztruppe der hauptamtlichen Fachkräfte begreifen“ (Wippermann 2023: 24). In diesem Zusammenhang heben die Expertisen hervor, dass neue „CoLeadership“-Modelle (Arriagada 2025: 69) und „Rollentypologien als Grundlage für differenzierte Strukturentwicklung“ (Haas 2025: 101) entscheidend sind, um Synergien zu nutzen und nachhaltige Motivation zu schaffen. Formalisierte Mitgliedschaft ↔ projektbasiertes, temporäres Engagement Klassische Mitgliedschaft und die damit einhergehenden Mitgliedszahlen gewährleisten für Mitgliedsverbände gesellschaftliche und politische Legitimation und Finanzierung, verlieren jedoch für bestimmte Zielgruppen an Attraktivität gegenüber temporären, situativen oder digitalen Beteiligungs- und Engagementformen. Haas dokumentiert, dass „viele Menschen sich lieber kurzfristig und projektbezogen engagieren möchten, sodass feste Mitgliedschaften an Bedeutung und Selbstverständlichkeit verlieren“ (Haas 2025: 83). Doch Bindung, so macht er deutlich, entsteht nicht ausschließlich durch Dauer: empirische Befunde zeigen, „dass Mitgliederbindung dann besonders gut gelingt, wenn Engagement nicht nur erlaubt, sondern erwünscht, gefördert und gestaltet wird“ (ebd.: 89). Neue Engagementformen wie „Mikro-Engagement“ (ebd.: 93) und hybride Rollenmodelle eröffnen konkrete Chancen für vielfältige Lebensrealitäten. Digitalisierung ↔ Analoge Beziehungsarbeit Digitale Tools erschließen neue Reichweiten und senken Zugangshürden, vereinfachen viele Tätigkeiten im Engagement und eröffnen neue Möglichkeiten, Engagement orts- und zeitunabhängig auszuüben (vgl. BMFSFJ 2024) -sie können aber analoge Begegnung nicht ersetzen: „Dabei verdrängt das digitale Engagement nicht bestehende Engagementformen, sondern es tritt als neue Engagementform neben das bisherige Engagement und ergänzt es.“ (end.: 14) Hybride Modelle, die digitale Kommunikation und analoge Begegnung klug verbinden, bringen daher den größten Mehrwert. Vielfalt & Inklusion ↔ Traditionelle Milieus & Routinen Viele Mitgliedsverbände sind durch bürgerliche, homogene Milieus geprägt, was sich in Sprache, Gremienstrukturen und Traditionen manifestiert. Haas macht deutlich, dass exklusive Sprache, formalisierte Prozesse und fehlende flexible Einstiegsmöglichkeiten, aber beispielsweise auch „Ironie unter Eingeweihten“ und „ritualisierte Gremienlogiken“ die Ansprache neuer Gruppen erschweren (Haas 2025: 88). Auch Arriagada unterstreicht, dass Inklusion und Diversität bewusste Gestaltung erfordert (Arriagada 2025: 68). Vor diesem Hintergrund kommt Dubiski zu dem
12 Schluss, dass Tabus, unhinterfragte Annahmen und ritualisierte Praktiken den Horizont begrenzen und irritiert werden müssen, um zu neuen Perspektiven kommen zu können (Dubiski 2025: 127). 3.3 Themenfelder In der folgenden Übersicht sind zentrale Themenfelder benannt, die für die Zukunftsfähigkeit von Mitgliedsverbänden entscheidend sein können. Sie basieren auf den Erkenntnissen und Analysen aus dem Projekt sowie auf den aktuellen Erkenntnissen aus der Engagement- und Verbandsforschung. Es werden Leitfragen zu den Themenfeldern formuliert, um deutlich zu machen, welche Stellschrauben Verantwortliche in Verbänden ‚drehen‘ können, um Engagementförderung, Mitgliedergewinnung und -bindung wirksam zu gestalten. Diese können sich von Mitgliedsverband zu Mitgliedsverband, von Verbandsebene zu Verbandsebene unterscheiden.
13 Themenfeld Worum geht es? Was ist das Problem, die Herausforderung? Leitfrage/n 1 Zielgruppen und Engagementformen Gruppen und Definitionen von Adressat*innen und Engagementformen: bürgerschaftliches/ zivilgesellschaftliches Engagement, Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, aktive/ zahlende Mitgliedschaft usw. Unschärfen in der Definition von Zielgruppen und Engagementformen können dazu führen, dass Angebote am Bedarf vorbeigehen. Zugleich steigt der Wunsch nach modularen und digital gestützten Mitgliedschaftsmodellen, die sich flexibel an Lebensphasen anpassen. Welche Begriffe für die Kategorisierung der Adressat*innen verwenden wir? Welche Annahmen liegen diesen Begriffen zugrunde? Wer wird wozu in welcher Form adressiert? Welche Erwartung knüpft sich an wessen Engagement/Mitgliedschaft/Ehrenamt? 2 Mitgliedschafts- modelle Auf Dauer angelegte und modulare oder pausierbare Mitgliedschaftsmodelle, z.B. Light-Tarif, Probe-Mitgliedschaft, Mitgliedschaft auf Zeit usw. Fehlende Varianz und Klarheit im Angebot von Mitgliedschaftsmodellen lässt Maßnahmen der Mitgliedergewinnung ins Leere laufen. Flexible Mitgliedschaftsmodelle holen Zielgruppen zurück oder binden neue temporär, denen ‚lebenslange‘ Bindung zu starr ist. Wie gestalten wir Mitgliedschaft so modular und attraktiv, dass sie unterschiedlichen Lebensphasen und Bindungswünschen gleichermaßen anspricht? 3 Barrierefreie Diversitätsstrategie Erleichterung von Zugängen über Mehrsprachigkeit, einfache Sprache, offene Gremien, etc. Barrieren entstehen u.a. durch Sprache, Formalia oder geschlossene Routinen und Gremien; Vielfalt steigert Attraktivität, barrierefreie Diversitätsstrategien senken Eintrittsschwellen und sichern eine echte Öffnung jenseits etablierter Milieus. Mikro-, Projekt- und Hybridformate schaffen niedrigschwellige Zugänge. Welche konkreten Barrieren halten bisher unterrepräsentierte Gruppen fern – und wie beseitigen wir sie, um echte Vielfalt zu erreichen? 4 Engagementformate Mikro-, Projekt-, Hybrid- & Digitalformate Es steigt nicht nur der Bedarf an flexiblen Mitgliedschaft- und Engagementformen, sondern auch an flexiblen und variablen Engagementformaten. Welche flexiblen Engagementformate bieten wir, damit Menschen einen wirksamen Einstieg finden?
14 Themenfeld Worum geht es? Was ist das Problem, die Herausforderung? Leitfrage/n 5 Governance- Balance Eine balancierte Governance von formaler Stabilität und agilen Innovationsräumen ist Voraussetzung für Experimentierfreude und Vertrauen (Haas 2025: 103). Sie kombiniert Sicherheit mit Offenheit; ohne Experimentierräume erstickt Innovation. Zu starke formale Strukturen können Innovations- und Experimentierfreude hemmen, während zu wenig Governance zu Risiko- und Steuerungsproblemen führt. Es gilt, klare Rollen, Verantwortlichkeiten und Leitplanken festzulegen, ohne die Flexibilität der Organisation zu beschneiden. Die Balance zwischen Stabilität und Agilität muss unter Berücksichtigung komplexer Anforderungen wie rechtlicher Vorgaben, Risiko-Management und digitaler Transformation gefunden werden. Wo benötigen wir klare GovernanceStrukturen, um Verlässlichkeit, Compliance und Risikomanagement sicherzustellen? An welchen Stellen müssen offene Prozesse und experimentelle Räume erhalten bleiben oder entwickelt werden, um Innovation und Beteiligung zu ermöglichen? Wie setzen wir Governance als unterstützenden Rahmen für agiles und selbstorganisiertes Handeln ein? Welche Instrumente und Kommunikationsformen eignen sich, um die Balance zwischen Sicherheit und Flexibilität in der Organisation transparent zu machen? 6 Co-Leadership & Rollenarchitektur Tandems aus Haupt- & Ehrenamt, Machtbalance; Co-Leadership-Modelle, die Haupt- und Ehrenamt auf Augenhöhe zusammenführen, stärken nicht nur die Motivation, sondern erhöhen auch die Transparenz von Machtverhältnissen (Arriagada 2025: 69; Haas 2025: 88f.). Im aktuellen Fachdiskurs wird betont, dass Ansätze zur Machtkritik, die bewusste Partizipation von Adressat*innen und die Frage nach einer weiteren Demokratisierung von Leitungsfunktionen explizit adressiert werden sollten. Hybride Teams teilen Verantwortung, entlasten und machen Leitungsrollen attraktiver. Wie organisieren wir die Zusammenarbeit von Ehren- und Hauptamt so, dass Kompetenzen sich ergänzen und die Machtbalance gewahrt bleibt? Wie lassen sich Machtverhältnisse innerhalb der Organisation transparent machen, die Mitbestimmung von Adressat*innen in Entscheidungsprozessen fördern und Leitungsgremien so weiterentwickeln, dass demokratische Prinzipien gestärkt werden?
15 Themenfeld Worum geht es? Was ist das Problem, die Herausforderung? Leitfrage/n 7 Stakeholder- und Zielgruppenpartizipation Stakeholder- und Zielgruppenpartizipation zielt auf die langfristige, strategische und/oder verbindliche Einbindung aller relevanten Gruppen und Interessen in Entwicklungs- und Steuerungsprozesse der Organisation und darauf, Angebote passgenau weiterzuentwickeln und die Bindung wie auch die Akzeptanz zu stärken. Ohne (strategische) Beteiligung von Stakeholdern und Zielgruppen können Angebote und Strukturen an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen und sind dann weniger wirksam. Es besteht die Gefahr, dass die Entwicklungen, Strukturen und Angebote eines Verbands nicht die tatsächlichen Bedarfe oder Lebenswirklichkeiten seiner Mitglieder widerspiegeln. Maßnahmen und Kommunikationswege können so an Relevanz und Wirksamkeit verlieren. Wie beziehen wir Stakeholder und Zielgruppen dauerhaft, verbindlich und dialogisch in die Entwicklung und Steuerung unserer Strukturen und Angebote ein? Welche Instrumente und Formate fördern eine echte, regelmäßige Partizipation und wie wird diese transparent kommuniziert? 8 Digitale Infrastruktur & Community- Management Plattformen und Tools zur Förderung der digitalen Teilhabe, Kommunikation und Zusammenarbeit der Akteure. Fehlende digitale Governance oder Verantwortlichkeiten können zu ineffizienter Pflege und Nutzung digitaler Werkzeuge führen, was Teilhabe und Kooperation erschwert. Welche digitalen Werkzeuge unterstützen Teilhabe, Zusammenarbeit und Engagement am wirkungsvollsten – und wer übernimmt deren kontinuierliche Pflege? 9 Strategische Kooperations- & Ressourcen- netzwerke Aufbau und Pflege von Netzwerken mit Kommunen, Unternehmen, NGOs u.a., die Zusammenarbeit, Ressourcen und Wirkung fördern. Netzwerke und Kooperationen scheitern häufig am unterschiedlichen Verständnis davon, was mit ‚Netzwerk‘ oder ‚Kooperation‘ verbunden wird, an unklaren Zielen, Rollen und Spielregeln oder unzureichender Abstimmung der beteiligten Partner. Welches Verständnis und welche Erwartung haben wir bezüglich Netzwerkarbeit/Vernetzung und/oder Kooperation? Mit welchen Partnern können wir unseren Auftrag besser erfüllen – und welche klaren Ziele und Spielregeln leiten Vernetzung und/oder Kooperationen? Welche Ziele, Rollen und Verantwortlichkeiten müssen klar definiert sein, damit Netzwerke und/oder Kooperationen erfolgreich sind?
16 Themenfeld Worum geht es? Was ist das Problem, die Herausforderung? Leitfrage/n 10 Change-, Lern- & Feedbacksysteme Um Wissen und Innovation umzusetzen und psychologische Sicherheit zu fördern, sind kontinuierliche Change-, Lern- und Feedbacksysteme entscheidend. Systematische Förderung von Innovationsfähigkeit, Lernkultur und Anerkennung von Feedback dienen als Motor für Entwicklung. Oft fehlt eine Organisationskultur, die kontinuierliches Lernen aus Erfahrungen nachhaltig verankert und psychologische Sicherheit für Experimente, offene Prozesse und Entwicklung sicherstellt. Welche Strukturen und kulturellen Voraussetzungen benötigen wir, damit Innovation und kontinuierliche Entwicklung zu selbstverständlichen Bestandteilen unserer Verbandsarbeit werden? Wie verankern wir systematisches Lernen aus Erfolgen und Fehlern in unseren Routinen, damit Erkenntnisse zügig in Entscheidungen übergehen? 3.4 Literatur Arriagada, Céline (2025): Engagement in Mitgliedsorganisationen. Publikation des ISS e.V. Frankfurt a.M. – in diesem Band BMFSFJ (2024): Vierter Engagementbericht. Zugangschancen zum freiwilligen Engagement. Berlin. Dubiski, Judith (2025): Verbandliche Rahmenbedingungen und Erneuerungsprozesse im Vergleich. Publikation des ISS e.V. Frankfurt a.M. – in diesem Band Haas, Benjamin (2025): Mitglieder, Engagierte, Förder*innen: Zielgruppen der verbandlichen Neustrukturierung. Publikation des ISS e.V. Frankfurt a.M. – in diesem Band Wippermann, Carsten (2023): Hauptamt braucht Ehrenamt – und umgekehrt. neue caritas 2023/17, S. 21–26.
17 VERÄNDERUNG IST KEIN PROJEKT
18 4 "Veränderung ist kein Projekt. Sie ist ein Möglichkeitsraum.”3 - Wie sich anders über Entwicklung in Mitgliedsverbänden nachdenken und sprechen lässt von Judith Dubiski “Dazu haben wir in den letzten Jahren schon viele Flipcharts vollgeschrieben.” – So lautete ein im Projekt immer wieder formulierter Satz, der meist mit einem gewissen Maß an Resignation geäußert wurde. Denn: “Es gibt schon lange kein Erkenntnisproblem mehr, wir haben aber ein Umsetzungsproblem.” Offensichtlich führen all die gesammelten guten Einsichten und Ideen zu notwendigen und zukunftsweisenden Entwicklungen in Verbänden nicht – oder zumindest nicht im erhofften Maß oder Tempo – zu entsprechenden Veränderungen. Einige der eingespielten Mechanismen und verankerten Glaubenssätze, die dazu zumindest beitragen, ließen sich auch im Projektverlauf, in den Beiratssitzungen und Fachgesprächen beobachten. Sie führen dazu, dass alle Diskussionen und Entwicklungen nur bis zu einem bestimmten Punkt führen und dann an einer Art ‚gläsernen Decke‘ stehen zu bleiben scheinen. Dieses Phänomen zu verstehen und zu lösen war die Erwartung an das Projekt. Weitere Informationen zum Projekt unter 2.2 Zusammenfassen lassen sich diese eingespielten und auch im Projekt reproduzierten Mechanismen unter dem Prinzip “Mehr desselben”: • Es werden verschiedene Gruppen von Menschen zusammengebracht, die Entwicklung und Veränderung vordenken und möglichst allgemeingültige Handlungsanleitungen dazu vorantreiben sollen, faktisch aber nur sehr begrenzte Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten haben. Gerade Multiplikator*innen und Verbandsentwickler*innen haben explizit die Aufgabe bzw. den Auftrag, Veränderungen vorzudenken und anzuregen, können aber (allein) keine Veränderung bewirken. • Dabei treffen seit vielen Jahren mit Verbandsentwicklung beschäftigte Hauptamtliche auf Ehrenamtliche, die nicht immer schon intensiv über den Verband als Organisation nachgedacht haben. 3 Dubbel, Daniel: Evolution, Baby! Blogbeitrag, Online unter: https://www.inspectandadapt.de/evolution-baby5-von-6/ (Abruf 29.09.2025)
19 • Der Grundgedanke ist, dass Veränderung etwas sei, was sich nach einem vorgegebenen Plan abarbeiten ließe. Damit verknüpft sich die Hoffnung, es ließe sich ein Modell (oder auch mehrere Modelle) entwickeln, dass danach nur umzusetzen ist. • Beide beteiligten Verbände – und das gilt sicher auch für andere Verbände, insbesondere föderal aufgebaute – betonen, wie vielfältig sie sind, wie eigenständig die Gliederungen arbeiten und wie demokratisch (im Sinne von: von unten nach oben) sie funktionieren. Trotzdem gibt es (auf allen Ebenen) die Idee, dass Hauptamtliche auf Landes- und Bundesebene dafür verantwortlich sind, Veränderungen zu initiieren, die bei Ehrenamtlichen auf Ortsebene ankommen und Wirkung entfalten. Aus der Forschung zu Innovation in Organisationen ist jedoch bekannt, dass echte Veränderung so nicht funktioniert, sondern ein komplexer, nicht-linearer und kollektiver Prozess ist. zum „Mythos der Rationalität“, Kapitel 5.1.4 …sollen deshalb dazu anregen, das Setting und den Modus des gemeinsamen Nachdenkens über Veränderung und Entwicklung als zentrale Bedingungen ernst zu nehmen und als erstes Moment von Veränderung zu berücksichtigen. Die folgenden Hinweise… Paul Watzlawick (2008) verdeutlicht das Muster „mehr desselben“ anhand einer Kurzgeschichte: Der verlorene Schlüssel Unter einer Straßenlaterne steht ein Mann und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: „Meinen Schlüssel.“ Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: „Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.“ Mehr desselben?
20 4.1 Verortung Es ist nicht zielführend, alle Themen und Fragen mit den gleichen Menschen oder im gleichen Gremium zu diskutieren – das wäre es nicht einmal dann, wenn genug Zeit dafür wäre. Der “große Rundumschlag”, mit dem darauf gezielt wird, “jetzt wirklich mal alles in die Hand zu nehmen zu prüfen”, ist genauso wenig hilfreich wie im Sinne größtmöglicher Beteiligung alles mit allen zu besprechen. Dies gilt umso mehr, wenn man sich bewusst macht, wer faktisch welche Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten hat und wer über wieviel Wissen oder Vorerfahrung verfügt. Es braucht deshalb eine klare Differenzierung und bewusste Verortung – und damit auch eine Abgrenzung: Worüber sprechen wir hier in diesem Kreis und was gehört hier nicht hin? Wozu tauschen wir uns aus, um ein Meinungsbild zu erhalten – und wozu können und wollen wir hier tatsächlich Entscheidungen treffen? Die (in Kapitel 3 benannten) unterschiedlichen Themenfelder sind auf verschiedenen verbandlichen Ebenen angesiedelt, fallen in unterschiedliche Zuständigkeiten und sind auf sehr verschiedene Art und Weise zu bearbeiten, weil sie ganz unterschiedliche Entscheidungen und Kommunikationen erfordern. Der klare Zuschnitt und die richtige Verortung der einzelnen Aspekte befreien einzelne Akteure und Gremien auch von dem Druck, für alles verantwortlich zu sein. Auch wenn ein ‚ganzheitlicher‘ Blick auf die Gesamtorganisation als Kontext sicherlich wichtig ist, stellt er doch eine Überforderung dar. Wer kann, muss und will mit wem zu welchem Thema / welcher Fragestellung arbeiten?
21 4.2 Aneignung In einem Veränderungsprozess geht es nicht darum, vorgegebene Schritte der Reihe nach abzuarbeiten oder umzusetzen. Wer Veränderung erreichen und vorantreiben will, muss sich die Themen und Fragestellungen (bzw. einzelne davon) zu eigen machen, sie zu den eigenen Themen und Fragen machen, sie für sich durcharbeiten, durch-denken, umformulieren, auf die ganz konkrete Situation, auf den eigenen Handlungs- und Einflussbereich übertragen und zuspitzen. So ist beispielweise jede der Leitfragen zu den Themenfeldern (Kapitel 3) so formuliert, dass sie grundsätzlich auf Ortsvereins-, Kreis-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene gestellt werden könnte – aber auf jeder dieser Ebenen eine leicht andere Bedeutung erhält oder ein kleines bisschen anders lauten müsste, um wirklich präzise zu sein. Gedanken dazu in den Kommentierungen, Kapitel 9 Die Spannungsfelder (Kapitel 3) sind nicht alle für jeden Verband und jede Gliederung gleichermaßen relevant. Sie variieren im Grad der Spannung, in ihrer Dringlichkeit und Komplexität. Für die eine Gruppe ist ein Spannungsfeld vielleicht gar kein Thema, für das eine andere Gliederung gerade alle Energie aufbringen muss. Welche Bedeutung und Relevanz hat welches Thema für mich und uns ganz konkret? “Leading innovation is not about creating a vision, and inspiring others to execute it.” (Hill 2014)
22 4.3 Anschlüsse Um sich in Diskussionen nicht zu verheddern, um nicht von konkreten Problemen immer und immer wieder zu den großen Grundfragen abzuschweifen (die sich im Zweifelsfall ohnehin nicht lösen lassen), kann eine Rückbesinnung auf die systemischen Grundlagen von Organisationen der Fokussierung dienen: Organisationen funktionieren über Entscheidungen und Kommunikationen. Dabei schließt Entscheidung an Entscheidung und Kommunikation an Kommunikation an. Damit werden zugleich die Pfadabhängigkeiten deutlich: Entscheidungen fallen eben nicht im luftleeren Raum, sondern schließen an frühere Entscheidungen an. Das grenzt Entscheidungsmöglichkeiten ein, kann aber auch entlasten: Von jetzt auf gleich alles ganz anders machen zu wollen, wird nicht zu nachhaltigen Veränderungen führen. Zu Pfadabhängigkeiten, Entscheidungen und Kommunikationen siehe 5.1.2 und 5.1.5 Gegebenenfalls ist es die Aufgabe der Moderation, die Diskussion immer wieder auf die jeweiligen Entscheidungs- und Kommunikationsnotwendigkeiten zurückzuführen. Dabei kann es helfen, zunächst einzelne Entscheidungen zu fokussieren und anhand derer mögliche Veränderungen und ihre Konsequenzen durchzuspielen. Um welche Entscheidung geht es hier gerade? Welche Kommunikation ist jetzt notwendig? “Systemisch gilt: Jeder Impuls wird daran gemessen, ob er sich in die vorhandenen Sinn- und Entscheidungsmuster einfügt. Anschlussfähigkeit wird so zum Erfolgsfaktor; ‘organisatorische Blindheit’ zum Risiko.” (vgl. 5.1.2)
23 4.4 Kommunikation Organisationen bestehen, „weil ständig Entscheidungen getroffen und miteinander verknüpft werden.“ Und: „Organisationen sind keine starren Gebilde; ihre Stabilität entsteht immer neu, solange gesprochen, abgestimmt und miteinander weitergedacht wird.“ (vgl. 5.1.5) Damit Entscheidungen und Kommunikationen gelingen, ist wesentlich zu verstehen, welchen Charakter die Entscheidungen und Kommunikationen haben, die zu thematisieren sind: • Geht es um strukturelle Fragen? • Um normative Entscheidungen? • Um emotional aufgeladene / unterlegte Argumente, die wahrzunehmen sind? Charles Duhigg macht deutlich, dass Kommunikationen scheitern, wenn zum Beispiel auf eine emotionale Botschaft („Ich habe Angst vor…“) mit einer normativen Wertung oder Botschaft („Man muss das aber so machen…“) geantwortet wird. Zu unterschiedlichen Kommunikationsarten und Schlüsselpersonen, die diese erkennen, siehe 5.4 Wer verbandliche Entwicklung vorantreiben will, tut also gut daran, sich bewusst zu machen, welche Dimension in einem Veränderungsprozess wann im Vordergrund steht und dieser dann auch – zumindest eine Zeit lang – Raum zu geben. Worüber sprechen wir hier und jetzt gerade tatsächlich? „In der empirischen Engagementforschung scheint weitgehend Konsens darüber zu herrschen, dass Engagement zum physischen Wohlbefinden beitrage und dass es ermögliche, sich zu vernetzen, ein Gespür für die (positive) eigene Position in der Gesellschaft zu erlangen und letztlich so etwas wie einen Sinn des Lebens zu entwickeln. Wir argumentieren, dass Engagement auch gerade deswegen verletzbar macht, weil ein solcher Sinn auch wieder genommen werden kann. Verletzungen sind eine bislang kaum zur Kenntnis genommene, unbeabsichtigte Folge von Engagement.“ (Kewes/Müller/Munsch 2025, S.159) „Engagierte sind in besonderer Weise verletzbar, weil sie im Engagement Orte schaffen, die ihnen viel bedeuten, weil sie eigene Ideen entwickeln und umsetzen oder sich als eine spezifische Person entwerfen können (die etwa besonders hilfsbereit, kompetent oder kreativ ist). Dass Engagierte solches tun und entwickeln können, beschreibt das grundsätzliche Potenzial freiwilligen Engagements – und gerade dieses Potenzial macht verletzbar.“ (ebd, S.173) Neueste Ergebnisse aus der Engagementforschung betonen, wie wichtig es ist, im Kontext von Engagement auf Emotionen zu blicken – und nicht nur auf die positiven:
24 4.5 Irritation Ein wichtiges Moment für die Entstehung von Veränderung und Innovation ist Irritation. Diese kann durch die Veränderung äußerer Bedingungen geschehen (weil in der Umwelt der Organisation etwas Einschneidendes passiert), durch Veränderung der Rahmenbedingungen in der Organisation, aber auch durch die Perspektiven von Menschen, die neu dazu stoßen oder von einem ganz anderen Standpunkt aus auf die Organisation und ihre Entscheidungen und Kommunikationen blicken. Damit Irritationen ihr ganzes Potential entfalten können, müssen sie allerdings radikal zugelassen werden. Die Expertise von Judith Dubiski (Kapitel 8.4) weist exemplarisch auf Irritationspotenziale hin, die sich aus verschiedenen Studien ergeben: • Was, wenn wir diejenigen, die wir erreichen wollen, nicht als Adressat*innen oder als Zielgruppe sehen, sondern als potenzielle Nutzer*innen unseres Angebots? Wie verändert das den Blick auf das, was sie bei uns (nicht) finden könnten? • Was, wenn wir ernstnehmen, dass unsere etablierten Strukturen, Kulturen und Praktiken bei allem guten Willen möglicherweise dazu führen, dass Menschen und/oder Gruppen sich einer „homogenisierenden Eingliederung“ unterziehen müssen, um teilhaben zu können? • Was, wenn wir ernstnehmen, dass unsere Verbände, unser verbandliches Handeln, unsere Strukturen, unsere Verbands-Sprache, unsere Routinen und Traditionen, eine Aneinanderreihung von Schwellen sind, die den Zugang zu uns erschweren – auch wenn wir selbst sie gar nicht wahrnehmen? Was passiert, wenn wir diese ganz fremde Perspektive, diesen verrückten Gedanken, diese provozierende Frage ernstnehmen und konsequent zu Ende denken? • Er verweist auf den Moment der Irritation durch einen Reiz oder eine Störung, • er beschreibt die unmittelbare Reaktion auf diesen Reiz: dann ist „Irritation“ bspw. ein Synonym zu Erregtheit oder Verärgerung, • und er benennt die – ggf. länger andauernde – Folge: Irritation als Zustand der Verwirrung oder Verunsicherung. In allen drei Bedeutungen gilt Irritation als etwas Negatives, was so schnell wie möglich wieder beendet oder beseitigt werden muss. Als Impuls für Veränderung aber ist Irritation in allen drei Dimensionen zentral und kann produktiv wirken: Das Gegebene und Gewohnte wird, beispielsweise durch ein Ereignis von außen, gestört. Es kommt zu einem Moment der Aufgeregtheit und vielleicht auch der Verärgerung. Das Potenzial von Irritation liegt dann gerade in der länger andauernden Verunsicherung des bisher als selbstverständlich Betrachteten. Der Begriff „Irritation“ bedeutet zunächst dreierlei (vgl. DWDS):
25 4.6 Verantwortung In der konkreten Befassung mit einem der Themenfelder, einer Leitfrage (und auch einer Irritation) gilt es, nicht auszuweichen, sondern beispielsweise ganz konkret darüber nachzudenken, was die gerade Anwesenden oder Beteiligten in ihrem jeweiligen Entscheidungs- und Kommunikationskreis tatsächlich tun und verändern können. Ein Verschieben von Verantwortung für den nächsten konkreten Schritt auf irgendeine andere Ebene oder an andere Akteure ist dann nicht zulässig, denn der nächste konkrete Schritt muss mindestens heißen, dass ein identifizierter und formulierter Handlungsbedarf dorthin kommuniziert wird, wo er bearbeitet werden kann. Zur selbstkritischen Reflexion können folgende Fragen anregen: • Was hindert uns wirklich daran, den nächsten Schritt selbst zu gehen – und nicht auf „die da oben“ oder „die anderen“ zu warten? • Wem nützt es, wenn Verantwortung diffus bleibt – und wer wird dadurch systematisch entlastet? • Welche Routinen oder Strukturen fördern das Verschieben von Verantwortung – und warum halten wir daran fest? Was wäre, wenn wir jede Form von „Delegation“ als Ausweichbewegung betrachten würden? • Wie oft verstecken wir uns hinter Prozessen, statt Verantwortung konkret zu übernehmen? • Wann haben wir zuletzt einen klar formulierten Handlungsbedarf tatsächlich dorthin kommuniziert, wo er bearbeitet werden kann – und was ist daraus geworden? • Was passiert, wenn niemand den nächsten Schritt geht? Was ist in meinem Entscheidungs- und Handlungsraum notwendig? Wofür kann ich Verantwortung übernehmen? “Verantwortung braucht es also, weil die Zukunft ungewiss, das Verhalten anderer unkontrollierbar und unser eigenes Handeln risikobehaftet ist. Wer Verantwortung übernimmt, verspricht seinem Umfeld, sich um das Herbeiführen, Bewahren oder Abwenden bestimmter Zustände zu kümmern und dabei auftretende Probleme eigeninitiativ zu lösen. Das hat für beide Seiten Vorteile: Verantwortliche Menschen erhalten größere Handlungsspielräume, während der Rest die ‚brüchige Entscheidung‘ wie eine Tatsache behandeln kann und dadurch Sicherheit gewinnt. Die Übernahme von Verantwortung ist eine soziale Vereinbarung, der beide Seiten zustimmen müssen, und etwas ganz anderes, als Menschen für etwas verantwortlich zu machen! Durch einseitiges Verantwortlich-Machen kommt kein Vertrauen ins Spiel und es wird auch keine Unsicherheit reduziert, da ungewiss bleibt, ob die andere Partei sich tatsächlich kümmern wird.” (Pukall 2023) Verantwortung und Unsicherheit
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